Nadine Rottau
Thema: Materialgerechtigkeit. Materialästhetische Konzepte in den nützlichen Künsten Englands und Deutschlands 1834-1914
Fach: Kunstgeschichte
Betreuerin: Prof. Margarete Jarchow (Zweitprüferin)
Status: Projekt abgeschlossen, Dissertation publiziert unter dem Titel "Materialgerechtigkeit. Ästhetik im 19. Jahrhundert" (Aachen 2012)
Zusammenfassung:
Obwohl der Begriff Materialgerechtigkeit seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts allgemein geläufig ist, wurde bislang keine umfassende Analyse vorgelegt, die sich mit der Genese dieser ästhetischen Kategorie befasst. Dabei spielte die Forderung nach einer materialgerechten Form eine bedeutende Rolle für die Aufwertung des künstlerischen Materials und die Neubestimmung der angewandten Künste in der Moderne.
Insbesondere die Industrialisierung und ihre Begleiterscheinungen rückten die Materialität der Form und die Verfahren der Herstellung im 19. Jahrhundert in den Mittelpunkt ästhetischer Debatten, an denen sich zahlreiche bedeutende Kunsttheoretiker wie John Ruskin, Gottfried Semper oder Herman Muthesius beteiligten. Gegenläufig zur industriellen Massenproduktion sollte durch handwerkliche Schulung, Vermeidung von Arbeitsteilung und materialästhetische Geschmackserziehung ein adäquater Umgang mit alten und neuen Materialien bei gleichzeitiger Qualitätssteigerung der Gebrauchskunstproduktion erreicht werden. Die mit dem technischen Fortschritt einhergehende Entwicklung neuartiger Werkstoffe wie Gusseisen, Zelluloid oder Beton drohte tradierte Stoffe wie Bronze, Holz oder Naturstein zu verdrängen. Vor allem die nahezu beliebig formbaren Kunststoffe galten als Materialien ohne spezifische Eigenschaften. Dies führte dazu, dass kunstgewerbliche Reformer eine materialgerechte Verarbeitung einforderten: Die zentrale These der Arbeit ist, dass die Maxime »Materialgerechtigkeit« aus dieser Diskussion heraus entwickelt und als normative ästhetische Kategorie für den jeweiligen kunstgewerblichen Kontext angepasst wurde. Es wurden Schriftquellen des langen 19. Jahrhunderts hinsichtlich der Prägung des Begriffs ausgewertet und dabei eine Analyse kunstgewerblicher und architektonischer Objekte, die mit alten wie neuen Stoffen hergestellt wurden, miteinbezogen.
Ruskins Schriften, die Produktion der Arts & Crafts-Bewegung um William Morris, die Gründung des South Kensington Museum in London als Sammlung vorbildlicher kunstgewerblicher Objekte sowie die Sammlung der Geschmacksverirrungen des Stuttgarter Kunsthistorikers Gustav Pazaurek bilden im ersten Teil der Studie die Grundlage, um dem Motiv der vehement eingeforderten Rücksicht auf die Materialien auf die Spur zu kommen. Die Ablehnung der kunstindustriellen Imitationen mit Surrogatmaterialien steht dabei im Zentrum. Gegen die falschen Substitute wurde die Einhaltung grundsätzlicher Prinzipien einer Materialehrlichkeit, Materialechtheit, auch Materialwahrheit oder eben Materialgerechtigkeit eingefordert.
Der zweite Teil stellt ausgehend von den Schriften Sempers materialästhetische Entwürfe vor, die zeigen, wie die Kategorie der Materialgerechtigkeit aus der Reflexion über den Gebrauch künstlerischer Mittel entstehen konnte und wie sie instrumentalisiert wurde. So gaben die Materialien und ihre angemessene Bearbeitung für den Direktor des k.k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie Jakob von Falke und den Architekten Adolf Loos in Wien konkrete Anweisungen zur ästhetischen Kontrolle der modernen Produktion, sei es als Rechtfertigung für Renaissanceformen oder eine ornamentlose Gestaltung. Konrad Lange empfand die organischen Ausdrucksformen des Jugendstils als materialgerecht, während der Dürerbund um Ferdinand Avenarius zu einer Nationalisierung der Werkstoffe beitrug. Hermann Muthesius und der Deutsche Werkbund hingegen machten die Materialfrage zur Grundlage einer rationalen Gestaltung und Typisierung der Gebrauchsgegenstände.
Diese Analyse der historischen Grundlagen bietet auch für die heute noch etwa im Bereich der Architektur und der Technikwissenschaften diskutierte materialgerechte Gestaltung eine neue Perspektive und terminologische Orientierung.