Überblick über den Projektbereich A
Allgemeines
Ob Zahnschmelz, Muschelschalen oder Knochen – die Natur ist in der Lage, überaus harte biologische Materialien zu erzeugen. Diese Bio-Werkstoffe besitzen bemerkenswerte Eigenschaften: Verglichen mit normalen Mineralien wie beispielsweise Marmor sind sie weniger spröde, zerbrechen oder zersplittern also nicht so leicht.
Grund dafür ist ein ungewöhnlicher innerer Aufbau: Betrachtet man Zahnschmelz unter einem Mikroskop, erkennt man zunächst ein komplexes Geflecht aus länglichen Keramikkristallen, unterteilt durch schmale, weiche „Bänder“, die einen erhöhten Proteingehalt aufweisen. Wird das Bild weiter vergrößert, ist zu sehen, dass jeder Keramikkristall aus einem Bündel aus vielen keramischen Fasern besteht, wobei das gesamte Bündel von einer dünnen Proteinhülle umgeben ist. Zoomt man noch tiefer in die Aufnahme hinein, sind die einzelnen Fasern der Bündel im Detail zu erkennen. Sie haben einen Durchmesser von wenigen Nanometern und sind ebenfalls jede für sich in eine hauchdünne Polymerschicht gehüllt.
Der Vorteil dieser hierarchischen, „selbstähnlichen“ Struktur: Obwohl der Zahnschmelz das härteste Material im menschlichen Körper ist, bricht er nur selten und bildet kaum Risse. Denn Zahnschmelz ist trotz seiner Härte relativ nachgiebig. Bei mechanischer Belastung kann er sich recht gut verformen – ein Verhalten, das man eher von Metallen kennt als von Mineralien. Der Grund: Die weichen Polymerschichten und -hüllen, die in den unterschiedlichsten Größenskalen im Zahnschmelz stecken, wirken ähnlich wie mechanische Puffer.
An diesen Bauprinzipien orientieren sich die Fachleute des Bereichs A, um Methoden für die Herstellung einer neuartigen Gattung von Materialien zu generieren. Der Plan: Als Ausgangsmaterial dienen winzige Bausteine einer definierten Größe, zum Beispiel nano- oder mikrometerkleine Keramikkügelchen. Diese überaus harten und steifen Teilchen werden mit einer Hülle beschichtet. Diese besteht typischerweise aus organischen Polymeren, also aus Kunststoffen. Die Hülle fungiert ähnlich wie ein Klebstoff und lässt mehrere der umhüllten Teilchen zusammenhaften und zu einem größeren Agglomerat wachsen. Dieses Agglomerat wird dann erneut mit einer neuen, diesmal dickeren Polymer-Hülle versehen – und kann sich mit anderen Agglomeraten zu einem noch größeren Gebilde zusammenschließen.
Das Resultat dieses hierarchischen Aufbaus wäre eine Art Keramik mit eingebautem „Stoßdämpfer“. Während die mineralischen Nanoteilchen für Härte und Stabilität sorgen, würden die Polymere, die einen Anteil von fünf bis zehn Prozent am Material haben sollen, den Werkstoff bruchfest und bis zu einem gewissen Grad biegsam machen. Im Idealfall wäre das neue Material ebenso hart und kratzfest wie ein Mineral, würde aber weniger leicht brechen oder splittern. Eine reizvolle Vision sind Handy- und Laptopgehäuse, die deutlich kratzfester als die heutigen Metall- oder Kunststoffgehäuse wären, aber dennoch fast so leicht wie Aluminium.
Potenziell hätten die neuen Materialien weitere Vorteile: Im Prinzip ließen sie sich so gestalten, dass sie im Gegensatz zu Metallgehäusen durchlässig für Funkwellen wären, was sich günstig auf den Handyempfang auswirken würde. Ebenso denkbar wären raffinierte optische Effekte: Ohne lackiert werden zu müssen, könnte der Werkstoff schillern wie Perlmutt.
Würde man Nanoteilchen aus sog. piezoelektrischen Keramiken verwenden, erhielte der Werkstoff sogar sensorische Fähigkeiten. Piezokristalle zeigen eine besondere Eigenschaft: Setzt man sie unter Druck, erzeugen sie eine schwache elektrische Spannung. Dadurch ließen sich auf elegante Weise Drucksensoren direkt ins Gehäuse integrieren, zum Beispiel als Ein-Aus-Schalter. Auch der umgekehrte Weg scheint möglich: Indem man eine elektrische Spannung an das Material anliegt, verformt sich der Werkstoff ein wenig und wird zum Aktuator. Möglich scheinen Anwendungen bei der Minderung unerwünschter Vibrationen oder der aktiven Lärmdämmung.
Ein weiteres Plus: Anders als bei der Produktion heutiger Hochleistungskeramiken sind keine Prozesstemperaturen von über 1000 Grad nötig. Es genügen Temperaturen bis maximal 200 Grad, was den Herstellungsprozess energieeffizienter und damit billiger und klimafreundlicher machen würde. Langfristig möglich scheint auch, die Kunststoff-Polymere durch Biomoleküle zu ersetzen. Damit wäre der Werkstoff biologisch abbaubar. Damit könnte er im Prinzip, wenn er seinen Dienst getan hat, auf dem Komposthaufen landen.
Die Forschungsfragen
Erste Modellsysteme konnten die Wissenschaftler bereits entwickeln. So ist es ihnen gelungen, keramische Nanokügelchen gezielt mit Polymermolekülen zu beschichten. Nun stehen im Bereich A des Sonderforschungsbereichs 986 folgende Fragen im Vordergrund:
- Welche Art von Nanoteilchen lassen sich mit welchen Polymeren optimal kombinieren?
- Wo liegt das jeweils beste Mengen-/Volumenverhältnis zwischen Nanoteilchen und Polymeren?
- Wie lassen sich die Eigenschaften eines Materials maßschneidern, indem man die Größe und Form der Nanoteilchen sowie der aus ihnen gebildeten Agglomerate variiert?
- Wie lassen sich die Bildungsprozesse detailliert durch physikalische Theorien und Computermodelle verstehen?
- u.v.a.m.
Methoden und Instrumente
Um die Nanoteilchen, also die Grundbausteine der neuen Werkstoffe, zu gewinnen, setzen die Forscher eine chemische Lösung aus geeigneten Materialien an, zum Beispiel Kalzium und Kohlensäure. Unter bestimmten Bedingungen verbinden sich die Stoffe zu Kalziumkarbonat-Nanoteilchen. Dann wird der Lösung ein Polymer zugegeben. Die Polymermoleküle docken an den Teilchen an und bilden dadurch eine Hülle. Die wissenschaftliche Herausforderung dabei: Man muss es schaffen, dass die Polymere möglichst fest auf der Oberfläche der Teilchen haften und sich zugleich gegenseitig dicht vernetzen. Nur dann können die umhüllten Teilchen optimal zu größeren Agglomeraten verkleben.
Für den nächsten Schritt müssen die Agglomerate zunächst gespült und gereinigt werden. Um sie dann mit einer neuen, größeren Hülle zu versehen, gibt man der Lösung eine andere Sorte von Polymeren zu. Im Prinzip ist dieser Schritt mehrfach wiederholbar, sodass immer größere Agglomerate entstehen.
Auf jeder dieser Hierarchieebenen lässt sich die Hülle anders gestalten. Dadurch kann man die Eigenschaften des Werkstoffs gezielt einstellen, zum Beispiel seine Verformbarkeit. Am Ende wird das Material getrocknet und gegebenenfalls noch gepresst – aus den kugelförmigen Agglomeraten werden flache „Pfannkuchen“. Durch diesen Trick wird die Kraftübertragung der Polymere erhöht – das Material wird stabiler.
Das Centrum für Angewandte Nanotechnologie (CAN GmbH) arbeitet bereits daran, die Herstellung der Nanoteilchen zu automatisieren, sodass sich größere Mengen fertigen lassen – eine unabdingbare Voraussetzung für die industrielle Nutzung. Geeignet für eine Massenproduktion scheint auch die im SFB 986 beforschte Methode der „Wirbelschichtgranulation“. Bei ihr wird ein feines Pulver auf einem Luftbett verwirbelt und mit einem Polymer beschichtet. Mit dessen Hilfe können die Pulverteilchen dann zu größeren Teilchen verklumpen.
Um die verschiedenen Systeme möglichst detailliert zu verstehen, sind mehrere Theoretiker in den SFB 986 eingebunden. Einige beschreiben das Verhalten der Nanoteilchen auf der Quanten-Ebene, also der Ebene der einzelnen Atome: Wie sehen die chemischen Bindungen zwischen Polymermolekülen und Teilchen aus? Welche Polymere passen zu welchen Nanoteilchen und welche nicht? Andere Theoretiker arbeiten auf der nächsten Größenskala, dem Mikrometer-Maßstab. Sie versuchen zu verstehen, wie gut die Agglomerate zusammenhalten. Wieder andere Experten modellieren die Prozesstechnik im Computer und simulieren mit ausgefeilten Rechnerprogrammen, wie sich die rotierende Luftschicht bei der Wirbelschichtgranulation verhält.
Die Arbeiten von Theoretikern und Experimentalforschern befruchten sich gegenseitig: Die Theorien geben maßgebliche Impulse für die Versuche und liefern Empfehlungen, welche Polymere besonders aussichtsreich erscheinen. Umgekehrt sind die Resultate der Experimente wichtig für die Theoretiker: Sie verraten, ob ihre Theorien „stimmen“ oder aber verbessert werden müssen.