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Interview mit Prof. Dr. Nihat Ay anlässlich seines Amtsantritts als Professor an der Technischen Universität Hamburg TUHH und Leiter des Instituts für Data Science Foundations.

Das Interview wurde geführt von Franziska Trede, Pressestelle der TUHH.

Sie sind jetzt Professor und Leiter des Instituts für Data Science Foundations. Wie würden Sie Ihr Forschungsgebiet kurz und verständlich beschreiben?

Wir leben in einem Zeitalter, in dem ständig und überall Daten generiert werden. Das Gebiet Data Science befasst sich damit, aus dieser Flut an Daten Erkenntnisse zu gewinnen, die als Grundlage für informierte Entscheidungen herangezogen werden können, seien es Entscheidungen einzelner Personen oder globale gesellschaftspolitische Entscheidungen. Das Besondere an Data Science ist, dass der Prozess der Erkenntnis-Gewinnung automatisiert ablaufen soll. Kein Mensch kann sich nämlich alle Daten gleichzeitig anschauen, geschweige denn Muster erkennen. Dennoch stellen die Fähigkeiten des Menschen das natürliche Vorbild für diesen Prozess dar. Der Mensch ist in der Lage, die ständig auf ihn einprasselnden Rohdaten seiner Sinne zu ordnet, ihnen eine Bedeutung zuzuweisen und damit die ihn umgebende Welt zu verstehen. Dieser Verständnisprozess läuft fast spielerisch ab und stellt die Grundlage jeglichen Handelns dar.

Wie planen Sie den Aufbau des neuen Instituts? Wo liegen Ihre Forschungsschwerpunkte?

Das Institut wird einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, bei dem zentrale Aspekte lernender intelligenter Systeme vereinheitlichend erforscht werden. Insbesondere sollen Konzepte und Methoden des maschinellen Lernens, der tiefen neuronalen Netze und der verkörperten Intelligenz (Embodied Intelligence) integriert werden. Hierbei wird die mathematische Theoriebildung eine zentrale Rolle spielen und durch experimentelle Arbeit in einem geplanten Robotics-Lab unterstützt und geleitet werden. Dieses Zwei-Säulen-Konzept, auf dem meine bisherige Arbeit basiert, wird sich im Institut auch strukturell durch mich, den Institutsleiter, einerseits und die Oberingenieurin/den Oberingenieur andererseits widerspiegeln; zur Zeit suche ich nach der richtigen Person für diesen Job. Ziel ist es, einen Schwerpunkt für das Gebiet der verkörperten Intelligenz aufzubauen. Weitere Test- und Anwendungsbereiche sollen im Rahmen von Verbund-Initiativen und -Projekten identifiziert und zur Entwicklung von Grundlagen für Data Science herangezogen werden.

Woran forschen Sie derzeit an der TU Hamburg? Können Sie mir ein konkretes Forschungsprojekt als Beispiel beschreiben, gerne sehr einfach erklärt.

Ich arbeite, wie viele meiner Kollegen auch, gleichzeitig an mehreren Projekten, die aber jeweils nur ein Puzzle-Teil im Kontext einer Vision darstellen. Eines dieser Puzzle-Teile befasst sich mit dem Wechselspiel zwischen überwachtem und unüberwachtem Lernen. Am besten verstanden ist das überwachte Lernen, zu dem bereits sehr effiziente Methoden entwickelt worden sind. Betrachten wir das Paradebeispiel eines Kindes, das von seiner Mutter lernt, Katzen in Bildern zu erkennen. Am Anfang hilft die Mutter dem Kind, indem sie ihm die Lösung vorgibt, ihm also sagt, ob auf dem jeweiligen Bild eine Katze zu sehen ist oder nicht. Nach einigen Beispielen soll das Kind dann in der Lage sein, die Katzen ohne Hilfe selber zu erkennen. Natürlich ist das nur ein Beispiel. Ersetzen Sie das Kind durch ein künstliches lernendes System und die Mutter durch einen erfahrenen Arzt, und schon geht es darum, auf der Basis bildgebender Verfahren in der Medizin bestimmte Krankheiten, und nicht die Katze, zu erkennen. Das große Problem ist nun, dass wir es typischerweise mit hochdimensionalen Daten zu tun haben, bei denen keiner weiß, wie sie einzuordnen sind, weder die aus der Perspektive des Kindes allwissende Mutter noch der erfahrene Arzt, um bei den erwähnten Beispielen zu bleiben. Es geht also nicht um die Weitergabe von vorhandenem Wissen, wie z.B. von der Mutter an das Kind, sondern vielmehr um das Entdecken von Wissen. Dies ist ein zentrales Anliegen von Data Science. Im Rahmen des ganzheitlichen und mathematischen Zugangs des Instituts für Data Science Foundations verfolgen wir dafür natürliche und vielversprechende Ansätze. Hierbei kommen grundlegende Ideen aus dem wichtigen Gebiet der verkörperten Intelligenz, das in engem Zusammenhang steht mit cyber-physischen Systemen, einem Forschungsschwerpunkt der TUHH.

Wie und wo kann Ihre Forschung bzw. Ihr Forschungsbeispiel eingesetzt werden?

Wie oben erwähnt, kommen grundlegende Ideen für meine Forschung aus dem Gebiet der verkörperten Intelligenz. Entsprechende lernende Systeme haben einen Körper, der mit der Welt interagiert und dadurch Verhalten entfaltet. Man kann hierbei z.B. an einen zwei-, vier- oder sechsbeinigen Roboter denken, der laufen lernt. Die Steuerung eines derartigen physikalischen Systems kann sehr schwierig sein, wenn man versucht, diese von außen zu planen. Dennoch ist dies der übliche Ansatz. Unser Ansatz hingegen sieht vor, dass das System auf der Basis der sensorischen Daten seine ganz eigene Sicht auf die Welt, sozusagen von innen heraus, entwickelt und diese als Basis für seine zielgerichtete Steuerung heranzieht. Es stellt sich heraus, dass hierdurch das Problem der Steuerung oftmals stark vereinfacht werden kann, was zu robusten Lösungen bei niedrigem Energie-Verbrauch führt. Wir wollen aber einen Schritt weiter gehen und allgemeinere Systeme erforschen. Hierbei haben wir es mit komplexen Systemen zu tun, die aus vielen interagierenden oder sich beeinflussenden Komponenten aufgebaut sind, die nicht unbedingt, wie bei einem Roboter, einen zusammenhängenden Körper bilden. Man denke z.B. an das Verkehrssystem, sei es der Auto-, Flugzeug- oder Schiffs-Verkehr, an Gesellschaftssysteme oder aber auch ganz konkret an das universitäre System der TUHH. Nicht nur der Roboter soll laufen lernen, sondern auch Verkehrs- und Gesellschaftssysteme sollen, in einem abstrakteren Sinne, optimal laufen. Wie lässt dich dies am besten erreichen? Unser Ziel ist es, mit den Grundlagen für Data Science eine Antwort dafür zu liefern.

Was wollen Sie damit erreichen? Welchen Beitrag wollen Sie zum Fortschritt leisten? (Ganz nach dem Motto der TU Hamburg: Technik für die Menschen)

Wie der Name meines Instituts verrät, geht es in erster Linie um Grundlagen; ich möchte den Prozess des datengetriebenen Verstehens verstehen. Wie schaffen wir es, aus bedeutungslosen Daten, die uns umgebende Welt zu begreifen? Oder konstruieren wir nur unsere eigene Welt, die gut genug ist, uns durch das Leben zu navigieren? Die technische Umsetzung in Form von künstlichen Systemen ist ein wichtiges Instrument zur Entwicklung der Theorie, ganz im Sinne von Richard Feynman, einem bedeutenden Physiker und Nobelpreisträger, der diese Idee mit den Worten „What I cannot create, I do not understand“ umschrieb. Das Robotics-Lab des Instituts für Data Science Foundations zielt genau darauf ab, Systeme zu erschaffen, die in der Lage sind, aus bedeutungslosen Daten Erkenntnisse zu gewinnen und denen damit eine systemzentrische Bedeutung zuzuschreiben. Perspektivisch sollen technische Umsetzungen aus ihrer initialen Rolle als Instrument für Grundlagenforschung hinauswachsen und in vielfältigen Anwendungsbereichen, bei denen es um die Steuerung hochkomplexer Systeme geht, eingesetzt werden.

Zu welchem Thema haben Sie promoviert?

Ich habe im Fach Mathematik promoviert, und zwar zu einem Thema, das geometrische Eigenschaften lernender Systeme beschreibt. Dabei geht es nicht so sehr um die Geometrie der Systeme im drei-dimensionalen Raum, also z.B. darum, ob das System zwei, vier oder sechs Beine hat. Es geht vielmehr um eine Geometrie, die beschreibt, wie weit, in einem abstrakten Sinne, das lernende System vom Lernziel entfernt ist. Das Gebiet, das sich damit beschäftigt, heißt Informationsgeometrie. Einerseits war meine Dissertation, die den Titel „Aspekte einer Theorie pragmatischer Informationsstrukturierung“ trägt, eine Art Eintrittskarte in dieses Gebiet, und andererseits hat sie es durch eine neue Forschungsrichtung bereichert. Mittlerweile habe ich zusammen mit drei Kollegen ein Buch zu dem Thema geschrieben, das als Standardwerk angesehen wird, und bin seit einigen Monaten Editor-in-Chief des Journals „Information Geometry“.

Wieso haben Sie sich für eine Karriere in der Wissenschaft entschieden? Wollten Sie schon immer diesen Berufsweg einschlagen?

Es war keine bewusste Entscheidung, wie man sie nach Abwägen aller Optionen fällt. Ehrlich gesagt waren mir die Möglichkeiten in dem jeweiligen Karriereschritt erst dann bewusst geworden, wenn dieser anstand, sodass eins zum anderen kam und ich nun Institutsleiter an der TUHH bin. Andererseits, wenn ich zurückblicke, so stelle ich fest, dass ich mich schon sehr früh mit wissenschaftlichen Fragen beschäftigt habe, allerdings ohne genau zu wissen, dass es einen Beruf gibt, bei dem man dafür sogar bezahlt wird.

Was begeistert Sie so an Ihrer Arbeit?

Ich bin ja Mathematiker. Mich erfüllt es mit großer Freude zu sehen, wie aus einfachen abstrakten Strukturen ein höchst komplexes Geflecht aus Zusammenhängen entsteht und zu einer weitreichenden Theorie wachsen kann. Manchmal folgen diese Zusammenhänge unserer Intuition, und manchmal überraschen sie uns; Logik nimmt keine Rücksicht auf unsere Intuition. Die Mathematik entfaltet jedoch ihre eigentliche tragende Kraft in Bereichen, in denen unsere Vorstellungskraft zu schwach ist und die Intuition uns falsche Dinge vorgaukelt. Wer kann sich schon einen 1000-dimensionalen Raum vorstellen? Bei den meisten, auch bei Mathematikern, hört die Vorstellungskraft mit der dritten Dimension auf, also der Dimension, die unserem alltäglichen Anschauungsraum entspricht. All das ist an sich faszinierend. Aber das eigentliche Wunder offenbart sich, wenn wir die Komplexität natürlicher Phänomene und Prozesse auf ein Fundament einfacher abstrakter Strukturen zurückführen können, wenn also die Theorie die Natur beschreibt. Dann haben wir das Gefühl, zumindest ich habe das Gefühl, die Arbeitsweise der Natur zu verstehen. Mein Traum ist es, ein derartiges Verständnis für diejenigen Mechanismen zu erlangen, die der natürlichen Intelligenz zugrunde liegen. Ich glaube fest daran, dass sie einfachen Grund-Regeln entspringt und sich in vielfacher Weise entfaltet.

Welche Eigenschaften sollte man als Forscher*in mitbringen?

Als Forscher:in sollte man in der Lage sein, Dinge zu hinterfragen und Grenzen des Denkens zu überwinden. Diese sind oftmals das Resultat eines kulturellen Gewöhnungsprozesses und existieren nur in unserem Kopf. Mein Studium der Mathematik war letztendlich eine Art Therapie, in der ich gelernt habe, keine Angst davor zu haben, das Mögliche zu denken, auch wenn es auf den ersten Blick keinen Sinn macht. Wachgerüttelt hat mich damals mein Mathematik-Professor mit der Aussage, dass 1 plus 1 durchaus gleich 0 sein kann. Das ist keineswegs Unsinn. Heute weiß ich, dass derartige Rechenoperationen die Grundlage bilden für lineare Codes, die in der Informations- und Kodierungs-Theorie eine fundamentale Rolle spielen und in Kommunikationssystemen genutzt werden.

Was möchten Sie Ihren Studierenden mit auf den Weg geben?

Ich möchte meine Studierenden dazu ermutigen, sich auf Dinge einzulassen, wirklich einzulassen, die von erfahrenen Dozenten als grundlegend angesehen werden. Es erfordert Vertrauen, da wir in einer Welt leben, in der Wissen scheinbar überall und jederzeit verfügbar ist.

Was mögen Sie an Hamburg?

Tatsächlich bin ich neu in Hamburg und hatte noch nicht ausreichend Zeit, um mich auf diese Stadt einzulassen. Allerdings hat die Zeit sehr wohl ausgereicht, um zu erkennen, wie freundlich die Menschen hier sind.

Falls Sie möchten, können Sie gerne ein wenig Privates über sich erzählen, z.B.: Wo sind Sie aufgewachsen? Familienstand? Hobbies?

Ich bin in Bochum aufgewachsen und habe an der Ruhr-Universität Bochum studiert. Ich bin verheiratet und habe drei erwachsene Kinder, zwei Mädels und einen Jungen. Was meine Hobbies angeht, so war ich mal vor langer Zeit von der Malerei begeistert und habe bis zu meinem Abitur selber gemalt und ausgestellt, übrigens mit starken Bezügen zu meiner aktuellen Forschung. Mein Traum ist es, eines Tages zur Malerei zurückzukehren. Vielleicht kann ich das nach dem Aufbau des Instituts für Data Science Foundations realisieren.