Chemische Lehrbuecher von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in unsere Zeit


Neben Anmerkungen zu einer Geschichte des chemischen Lehrbuches finden Sie hier auch Anmerkungen zu modernen chemischen Lehrbuechern.


Chemische Lehrbuecher und Geschichte
Im Unterschied zu nach wissenschaftlichen Kriterien systematisch geordneten und auf Vollstaendigkeit bedachten Handbuechern sollten Stoffauswahl und -anordnung bei Lehrbuechern nach paedagogischen Aspekten erfolgen. Terminologisch bezeichnen sich allerdings in der ersten Haelfte des 19. Jahrhunderts auch viele als Lehrbuecher gedachte Werke als Handbuecher, z.B. hat Ernst Ludwig Schubarths "Handbuch der technischen Chemie" den Zusatz "Zum Gebrauch beim Unterricht im Koenigl. Gewerbinstitut und den Provinzial-Gewerbeschulen des preuss. Staats". Lehrbuecher legen das anerkannte Theoriengebaeude einer Wissenschaft dar, "erlaeutern viele oder alle ihrer erfolgreichen Anwendungen und vergleichen diese Anwendungen mit exemplarischen Experimenten und Beobachtungen. Bevor solche Buecher Anfang des neunzehnten Jahrhunderts (und bei den neu entstan-denen Wissenschaften sogar noch spaeter) populaer wurden, erfuellten viele der beruehmten Klassiker der Wissenschaft eine aehnliche Funktion."(1)

In der Chemie sind im 18. Jahrhundert besonders die Werke von Pierre Joseph Macquer ("Elemens de chymie theorique", 1749) und Antoine Lavoisier ("Traite elementaire de Chimie", 1789) zu nennen. Das "Lehrbuch der Chemie" am Beginn des 19. Jahrhunderts wurde von Joens Jacob Berzelius (Erste schwedische Ausg. 3 Bd. 1808-1818) geschaffen, dessen deutsche Uebersetzung von Friedrich Woehler grossen Einfluss auf andere Lehrbuchautoren hatte. Wichtige Chemie-Lehrbuecher des 19. Jahrhunderts sind in Meyers "Geschichte der Chemie"(2) aufgefuehrt: Mitscherlichs "Lehrbuch der Chemie", Woehlers "Grundriss der Chemie", Regnault-Streckers "Kurzes Lehrbuch der Chemie", Graham-Ottos sowie Roscoe-Schorlemmers "Lehrbuch der Chemie" u.a.

Auch die langsam entstehenden Teildisziplinen der Chemie erhalten im Laufe des 19. Jahrhunderts eigene Lehrbuecher, so die analytische Chemie durch C.R. Fresenius.(3)

"Buecher sind in den heutigen Wissenschaften gewoehnlich Lehrbuecher oder rueckblickende Betrachtungen ueber diesen oder jenen Aspekt des wissenschaftlichen Lebens... Nur in den fruehen Entwicklungsstadien... der verschiedenen Wissenschaften pflegte das Buch die gleiche Beziehung zur wissenschaftlichen Leistung zu besitzen, wie man sie heute noch auf anderen schoepferischen Gebieten findet."(4)

Zu den oben erwaehnten Klassikern muss auch Wilhelm Ostwalds "Lehrbuch der allgemeinen Chemie"(2 Bd. 1885-1887) gezaehlt werden, in dem Ostwald nach Meinung von Walther Nernst "deshalb eine so fundamentale Leistung [gelang], weil er in diesem Werke der physikalischen Chemie, diesem Zwischengebiet zwischen Physik und Chemie, klar vorgezeichnete Bahnen wies, indem er nicht nur die bereits vorliegenden, aber vielfach wenig beachteten Arbeiten kritisch zusammenfasste, sondern vor allem auch die vorhandenen Luecken aufdeckte, und so fast kategorisch der weiteren Forschung ihre dringlichsten Aufgaben stellte."(5) Nernst nannte die physikalische Chemie in seinem eigenen Lehrbuch "Theoretische Chemie". "Eine Geschichte der chemischen Lehr- und Handbuecher ist noch nicht geschrieben worden.(6) Sie wuerde aber ungemein lehrreich gerade fuer die noch vielfach ungeloesten oder ungenuegend behandelten Probleme der Wissenschaftsmethodik ausfallen. Denn ein jedes einigermassen gelungenenes Lehrbuch stellt einen Querschnitt durch die wissenschaftlichen Anschauungen und Kenntnisse der Zeit dar, in welcher es geschrieben wurde, der durch die Drucklegung dauernd fixiert worden ist, und gibt somit eine exakte Anschauung von dem wissenschaftlichen Denken jener Epoche."(7)

Das Studium von Lehrbuechern als historische Quelle ist gerade in den Zeiten der Wissenschaftsentwicklung interessant, die Kuhn in seinem wissenschaftstheoretischen Ansatz als wissenschaftliche Revolutionen bezeichnet.

"The study of early scientific textbooks is a wide field, which hardly been exploited, and which promises a rich harvest of facts for the better understanding of scientific development and also for a better knowledge of man with all his desire for truth, his good and bad velleities and his incongruities."(8)

Was die Darstellung der Geschichte der Wissenschaften in den Lehrbuechern selbst angeht, sei auf Kuhn verwiesen, der die Rolle der Lehrbuecher in der "normalen" Wissenschaft ausfuehrlich beschreibt. "Lehrbuecher beginnen also damit, den Sinn des Wissenschaftlers fuer die Geschichte abzustumpfen... Charakteristischerweise enthalten wissenschaftliche Lehrbuecher nur wenig Geschichtliches, und zwar entweder in einem einfuehrenden Kapitel oder haeufiger in gelegentlichen Hinweisen auf die grossen Helden eines frueheren Zeitalters."(9) So zeigt Kuhn am Begriff desBeispiel des chemischen Elementbegriffes, wie in vielen Lehrbuechern, historisch falsch, Robert Boyle als Urheber dieses Begriffes genannt wird.(10)

Ostwald hat in seinem Werk "Elektrochemie : ihre Geschichte und Lehre" (Leipzig: Veit, 1896) den Versuch gemacht, die geschichtliche Entwicklung einer Wissenschaft zur Grundlage fuer ihre didaktische Vermittlung zu machen.


Moderne chemische Lehrbuecher - einige Anmerkungen

Illustrationen in chemischen Lehrbuechern des 19. Jahrhunderts zeigen in der Regel Holzstiche von Geraeten der Labor-Grundausruestung, aber auch von komplizierten Versuchsapparaturen. Erst in modernen Lehrbuechern spielen Abbildungen dann auch eine didaktische Rolle. Musterbeispiel ist das Buch von Dickerson und Geis, bei dem Lehrbuchautor und Graphiker intensiv zusammengearbeitet haben.(11) In Ausnahmefaellen sind auch beruehmte Zeichner als Illustratoren zu finden, z. B. Walt Disney im Lehrbuch von Morrison und Boyd.(12)

Weiterfuehrende Literaturhinweise sind in Lehrbuechern zur Chemie in der Regel immer zu finden. Ausfuehrliche Zusammenstellungen der Fachliteratur finden sich aber meist nur in Handbuechern. Allgemeine Einfuehrungen in die Literatur zur Chemie, wie sie teilweise in amerikanischen Lehr- und Praktikumsbuechern ueblich sind, finden sich in deutschsprachigen Lehrbuechern kaum. Lobenswerte Ausnahmen fuer die organische Chemie sind das neue Werk von Christen und Voegtle(13) sowie die deutsche Uebersetzung des Buches von Streitwieser und Heathcock.(14)

"Der Inhalt von einfuehrenden Lehrbuechern ist zu 90 % wahr, der Inhalt der wichtigsten wissenschaftlichen Zeitschriften der Physik ist zu 90 % falsch."(15) Aber: "Lehrbuecher enthalten jedoch nur einen kleinen Bruchteil dessen, was wohlbekannt und wohlverstanden ist. Die Ergebnisse der juengsten Forschung haben sicherlich fuer Entscheidung und Handeln Bedeutung. Angesichts einer brennenden wissenschaftlichen Frage, wie zum Beispiel 'Hat die allgemeine Fluorierung des Leitungswassers schlechte Folgen fuer die menschliche Gesundheit?' suchen wir den Rat eines Fachmanns dieses Gebietes oder lesen wir uns durch Forschungsarbeiten, Uebersichtsartikel und Konferenzberichte. Dabei erwarten wir keine endgueltige Antwort, hoffen jedoch, ein Urteil ueber das 'Ausmass an Konsens' in verschiedenen Gesichtspunkten zu erhalten."(16)

Moderne chemische Lehrbuecher sollen sich auch an Personen wenden, die die Chemie nicht zu ihrem Beruf machen wollen, sondern "die Entscheidungen ueber chemische Probleme treffen muessen, die die Qualitaet und gelegentlich die Dauer ihres Lebens beeinflussen werden... Die Chemie ist eine zu wichtige Sache, um sie den Chemikern zu ueberlassen."(17) Aber haben die Chemiker selbst die "Sache Chemie" im Griff ? Ganz sicher scheint sich der Nobelpreistraeger Roald Hoffmann da auch nicht zu sein. Er schreibt: "Naiv, unwissenschaftlich und undemokratisch waere es sich auf den Standpunkt zu stellen: Wenn schon nicht wir selbst, so wird doch irgendjemand anders Bescheid wissen, und wir sollten darauf vertrauen, dass dieser jemand unsere Gesundheit schuetzt." und "Unwissenheit ueber Chemie ist ein Hindernis fuer den demokratischen Prozess. Ich bin der festen Ueberzeugung..., dass 'Normalbuerger' die Macht haben muessen, Entscheidungen zu treffen ueber Gentechnik, ueber Muelldeponien, ueber gefaehrliche und sichere Chemieanlagen." (18) Mit Hilfe eines durch gute chemische Lehrbuecher vermittelten Grundwissens in Chemie sollte dies ermoeglicht werden. Die Lehrbuchsammlung der Universitaetsbibliothek der TU-HH stellt in Mehrfachexemplaren viele moderne Lehrbuecher der Chemie fuer die Ausleihe zur Verfuegung.


Copyright: Thomas Hapke

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Anmerkungen und Literaturhinweise
(1) Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. rev. u. um das Postskriptum von 1969 ergaenzte Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976. Hier: S. 25. Signatur: NAB-501.

(2) Meyer, Ernst von: Geschichte der Chemie. 4. Aufl. Leipzig: Veit, 1914. Signatur: 2309-344S. Hier: S. 582-583.

(3) Schwedt, Georg: Carl Remigius Fresenius und seine analytischen Lehrbuecher - ein Beitrag zur Lehrbuchcharateristik in der analytischen Chemie. Fresenius Z. Anal. Chem. 315(1983) S. 395-401.

(4) Kuhn, a.a.O., S. 34.

(5) Nernst, Walther: Wilhelm Ostwald. In: Zeitschrift fuer Elektrochemie 38(1932) S.: 337-341. Hier: S. 337.

(6) Siehe aber:

(7) Wilhelm Ostwald: Die chemische Literatur und die Organisation der Wissenschaft. Leipzig: Akademische Verl.-ges., 1919. S. 23.

(8) Sarton, George: The study of early scientific textbooks. Isis 38(1948) S. 137-148. Hier: S. 146

(9) Kuhn, Thomas S., a.a.O., S. 148-149.

(10) Kuhn, Thomas S., a.a.O., S. 152-154.

(11) Dickerson, Richard E., Irving Geis: Chemie - eine lebendige und anschauliche Einfuehrung. Weinheim u.a.: Verl. Chemie, 1983. Signatur: CHB-302.

(12) Morrison, Robert T., Robert N. Boyd: Lehrbuch der Organischen Chemie. 3. Aufl. Weinheim u.a.: VCH, 1986. Signatur: CHK-303. Hier: S.430.

(13) Christen, Hans R., Fritz Voegtle: Organische Chemie. 2 Bd. Frankfurt a.M. u.a.: Salle u.a., 1988-1990. Signatur: CHK-309.

(14) Streitwieser, Andrew, Clayton H. Heathcock: Organische Chemie. Weinheim: Verl.Chemie, 1986. Signatur: CHK-315.

(15) Ziman, John: Wie zuverlaessig ist wissenschaftliche Erkenntnis ? Braunschweig u.a.: Vieweg, 1982. Hier: S: 33. Signatur: NAB-500.

(16) Ziman, a.a.O., Hier: S. 114.

(17) Dickerson, Richard E., Harry B. Gray, Gilbert P. Haight: Prinzipien der Chemie. Berlin: de Gruyter, 1978. Hier S. X.

(18) Hoffmann, Roald: Chemie, Demokratie und eine angemessene Antwort auf die Umweltprobleme. Nachr. Chem. Tech. Lab. 38(1990) S.836-842.


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